Exzerpieren – Ein Leitfaden für Studierende
Das Exzerpieren philosophischer Texte ist eine anspruchsvolle und methodisch herausfordernde Aufgabe. Es geht darum, Texte nicht nur zu lesen, sondern sie aktiv nach den Methoden der Philosophie zu befragen. Dieser Leitfaden soll Ihnen helfen, Ihre Lesearbeit zu strukturieren und effektive Exzerpte zu erstellen.
1. Vorbereitungen: Verstehen, worum es geht
- Was ist ein Exzerpt?
- Ein Exzerpt ist eine schriftliche Zusammenfassung und Analyse eines Textes, die zentrale Aussagen und Argumentationsstrukturen erfasst.
- Ziel ist es, die wesentlichen Gedanken eines Textes zu extrahieren, diese kritisch zu hinterfragen und eine Grundlage für weitere Diskussionen zu schaffen.
- Warum ist Exzerpieren wichtig?
- Es zwingt Sie, sich intensiv mit dem Text auseinanderzusetzen.
- Es unterstützt Ihr Verständnis und Ihre Fähigkeit, in Seminaren aktiv teilzunehmen.
- Es hilft Ihnen, eigene Argumente im Diskurs zu entwickeln.
2. Die Methodik des philosophischen Exzerpierens
a) Der Text als Fragegegenstand
Philosophische Texte sollen nicht nur gelesen, sondern methodisch befragt werden. Das gilt nicht nur für die Lektüreaufgabe als ganze, sondern auch für einzelne Sätze, Absätze, Abschnitte, … Orientieren Sie sich an den klassischen Einteilungen der Disziplin:
- Ontologische Fragen:
Was wird über die Existenz oder das Sein ausgesagt? Welche Grundannahmen über die Realität macht der Text? - Semantische Fragen:
Wie werden Begriffe definiert und verwendet? Gibt es Begriffsunterscheidungen, die entscheidend sind? - Epistemische Fragen:
Welche Erkenntnisse oder Wissensansprüche formuliert der Text? Welche Begründungen werden gegeben? - Epistemologische Fragen:
Welche Position vertritt der Text in Bezug auf die Bedingungen, Möglichkeiten und Grenzen von Wissen? - Geltungstheoretische Fragen:
Welche Maßstäbe legt der Text an, um Aussagen, Normen oder Theorien als gültig zu bewerten? - Normative Fragen:
Welche ethischen, politischen oder ästhetischen Prinzipien werden vertreten? Welche Handlungsanweisungen oder Wertungen gibt der Text?
b) Mehr als nur Lesen: Das Lesen als Arbeit
- Philosophische Texte sind oft komplex und voraussetzungsreich. Ignorieren Sie weder Fremdwörter noch ungeklärte Konzepte!
- Nutzen Sie Hilfsmittel wie:
- Handbücher und Lexika (z. B. Historisches Wörterbuch der Philosophie).
- Kommentare zu Autor:innen oder Werken.
- Artikel aus wissenschaftlichen Datenbanken.
- Bibliotheksführungen und Softwareschulungen, um gezielt Quellen zu finden.
c) Fragen Sie mit KI-Unterstützung
Moderne KI-Tools (z. B. ChatGPT) können Ihnen helfen:
- Unklare Begriffe oder Konzepte zu erläutern.
- Synopsen oder Übersichten zu Texten zu erstellen.
- Argumentationsstrukturen zu identifizieren.
Nutzen Sie diese Tools, aber prüfen Sie die Ergebnisse immer kritisch!
3. Die Praxis des Exzerpierens
a) Das Exzerpieren in Schritten
- Erster Überblick:
- Lesen Sie den Text vollständig, ohne Notizen zu machen.
- Markieren Sie Schlüsselbegriffe, Thesen und Argumente.
- Zweite Durcharbeitung:
- Erfassen Sie die zentrale Fragestellung des Textes.
- Identifizieren Sie die Hauptthesen, Argumente und Schlussfolgerungen.
- Achten Sie darauf, wie der Text strukturiert ist (Einleitung, Hauptteil, Schluss).
- Dritte Durcharbeitung:
- Erstellen Sie eine strukturierte Zusammenfassung:
- Thesen: Was wird behauptet?
- Begründungen: Wie wird es begründet?
- Kritikpunkte: Welche Schwächen oder offene Fragen gibt es?
- Erstellen Sie eine strukturierte Zusammenfassung:
- Kritische Befragung:
- Hinterfragen Sie die Aussagen mit den methodischen Kategorien aus Punkt 2a.
- Stellen Sie Verbindungen zu anderen Texten oder Positionen her.
b) Formale Gestaltung eines Exzerpts
- Titel: Geben Sie den Text und die Autor:in an.
- Fragestellung: Formulieren Sie, welche Frage der Text zu beantworten versucht.
- Inhalt: Schreiben Sie in eigenen Worten die Thesen, Argumente und Schlussfolgerungen.
- Kritik: Ergänzen Sie Ihre kritischen Anmerkungen.
- Fragen für die Diskussion: Entwickeln Sie offene Fragen für das Seminar.
4. Tipps für eine effektive Arbeitsweise
- Verwenden Sie Tools zur Strukturierung:
- Digitale Notizen (z. B. Zotero, Obsidian) helfen, Gedanken zu ordnen.
- Mindmaps können Ihnen helfen, Argumentationsstrukturen zu visualisieren.
- Bleiben Sie diszipliniert:
- Exzerpieren ist eine harte Arbeit. Setzen Sie sich Etappenziele.
- Arbeiten Sie mit Kommiliton:innen zusammen, um unterschiedliche Perspektiven zu integrieren.
- Weniger fragen, mehr vorschlagen:
- Statt passiv nach Antworten zu suchen, formulieren Sie eigene Überlegungen und Hypothesen.
- In Seminaren können Sie so eine aktive Rolle einnehmen und Diskussionen initiieren.
5. Das Ziel: Eigenständigkeit und Souveränität
Das Exzerpieren ist nicht nur eine Übung im Verstehen, sondern eine Methode, sich aktiv in den philosophischen Diskurs einzubringen. Die Vielfalt der Methoden und Zugänge soll Sie nicht verwirren, sondern motivieren, selbständig zu denken. Wer sorgfältig und methodisch exzerpiert, ist besser vorbereitet, souveräner in der Diskussion und langfristig erfolgreicher im wissenschaftlichen Arbeiten.
6. Lesen heißt: Gedanken erkennen und formulieren
Beim Lesen philosophischer Texte geht es nicht nur darum, Wort für Wort oder Buchstabe für Buchstabe voranzukommen. Absätze sind die grundlegenden Bausteine eines Textes, und jeder Absatz formuliert typischerweise einen Gedanken. Ihre Aufgabe ist es, diesen Gedanken zu erkennen, zu formulieren und kritisch zu hinterfragen. Das führt uns zur Exzerpttechnik der Marginalien.
a) Marginalien: Gedanken in den Absätzen erschließen
- Schreiben Sie während des Lesens kurze Kommentare (Marginalien) in den Rand des Textes oder in Ihre Notizen.
- Eine Marginalie sollte den Kern des Absatzes in wenigen Worten zusammenfassen:
- Was wird gesagt?
- Welche Funktion hat der Absatz im Argumentationszusammenhang?
- Wie knüpft er an den vorherigen Absatz an?
- Vermeiden Sie es, einfach den Wortlaut des Autors zu wiederholen. Formulieren Sie in Ihren eigenen Worten, was der Absatz sagt.
b) Ebenen der Erläuterung: Fachlich und umgangssprachlich
- Autoren arbeiten an Konzepten, die oft mit spezifischer Terminologie beschrieben werden. Ihre Aufgabe ist es:
- Die fachliche Ebene zu identifizieren: Was sagt der Text in seiner eigenen Sprache und Terminologie?
- Eine umgangssprachliche Rekonstruktion zu entwickeln: Wie lässt sich der Gedanke einfacher oder verständlicher formulieren?
- Beispiel:
- Fachliche Terminologie: "Der Begriff der ontologischen Differenz bezieht sich auf die Unterscheidung zwischen dem Sein und dem Seienden."
- Umgangssprachliche Rekonstruktion: "Heidegger unterscheidet zwischen dem, was existiert, und dem Konzept des Existierens an sich."
c) Konzepte sammeln und vergleichen
- Philosophische Texte drehen sich häufig um zentrale Konzepte, deren Bedeutung der Autor entwickelt und erläutert. Sammeln Sie:
- Die zentralen Begriffe und Konzepte des Textes.
- Die Erläuterungen, die der Autor gibt.
- Alternative Erläuterungen oder Interpretationen aus anderen Texten oder Kommentaren.
- Vergleichen Sie diese Konzepte anhand der philosophischen Kategorien:
- Ontologisch: Was sagt das Konzept über das Sein oder die Existenz?
- Semantisch: Wie wird der Begriff verwendet oder definiert?
- Epistemisch: Welches Wissen wird mit diesem Konzept ermöglicht oder ausgeschlossen?
- Epistemologisch: Welche Bedingungen des Wissens werden mit diesem Begriff angesprochen?
- Normativ: Welche Wertungen oder Handlungsanleitungen ergeben sich daraus?
d) Strukturen erkennen und ordnen
- Philosophische Texte sind oft durch logische Abfolgen oder Argumentationslinien geprägt. Ihre Aufgabe ist es, diese Strukturen zu erkennen:
- Aufzählungen: Wenn ein Autor eine Liste von Punkten anführt (oft schwer zu erkennen), nummerieren Sie diese zuerst durch. Das macht die Struktur klarer.
- Gedankenfolge: Absätze bauen oft aufeinander auf. Arbeiten Sie die Linie der Gedanken heraus. Wie führt ein Gedanke logisch zum nächsten?
- Listen und Kategorien erstellen:
- Erstellen Sie Listen zentraler Begriffe, Aussagen oder Argumente.
- Identifizieren Sie Kennzeichnungen, wie z. B. "entscheidend ist", "es folgt daraus", "wesentlich für" usw.
- Beachten Sie Argumentationsmuster, wie:
- These → Begründung → Schlussfolgerung.
- Problem → Lösungsvorschlag → Kritik.
e) Exzerpieren ist: Zählen, Gliedern, Sammeln, Ordnen
- Zählen: Nummerieren Sie Aufzählungen oder Argumentationsschritte.
- Gliedern: Erkennen Sie die Struktur des Textes und teilen Sie ihn in sinnvolle Abschnitte auf.
- Sammeln: Halten Sie zentrale Konzepte, Begriffe und Argumente systematisch fest.
- Ordnen: Bringen Sie die Informationen in eine logische und nachvollziehbare Reihenfolge.
f) Nutzen Sie KI zur Unterstützung
- Moderne KI-Tools können Ihnen helfen:
- Zentrale Begriffe und Konzepte aus einem Text herauszufiltern.
- Aufzählungen oder Argumentationsstrukturen zu erkennen.
- Alternative Definitionen und Interpretationen für Begriffe zu finden.
- Komplexe Absätze in einfachere Sprache zu übersetzen.
- Achtung: Prüfen Sie die Ergebnisse der KI kritisch! Sie sind hilfreich, aber nicht unfehlbar.
7. Das Ziel: Den roten Faden erkennen und rekonstruieren
Das Exzerpieren dient letztlich dazu, die Gedankengänge eines Textes nachzuvollziehen und kritisch zu hinterfragen. Absätze folgen aufeinander, Gedanken bauen logisch aufeinander auf. Indem Sie diese Struktur herausarbeiten, machen Sie den Text für sich und andere lesbar und verständlich.
Exzerpieren bedeutet also mehr als nur "Abschreiben". Es ist eine aktive Tätigkeit, die die komplexen Strukturen eines Textes in übersichtliche und greifbare Formen bringt.